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17.05. – Der wärmste Tag des Jahres

Was heutzutage gerne als Beleidigung missbraucht wird, nämlich der „warme Bruder“, war für lange Zeit ein Titel hoher Anerkennung. Genauso wie diese Tatsache in Vergessenheit geraten ist, so haben sich viele Klischees und Falschinformationen rund um Homosexuelle und den unrühmlichen Paragraphen 175 gebildet, dessen Streichung sich am 11.06. zum 20. Male jährt.

Entgegen vieler Behauptungen war der Paragraph 175 keine Erfindung des 3. Reiches und genauso war die Fortführung 1949 im Strafgesetzbuch der BRD kein Versehen. Paragraph 175 wurde, mehr oder weniger in der Form wie wir in kennen, erstmals am 1. Januar 1872 in Kraft gesetzt, und selbst heute unterscheiden sich die Lehrmeinung über das „Warum“. Während die einen der offiziellen Linie folgen und von „widernatürlich“ und „christlichen Werten“ reden, die forciert werden sollten, sprechen andere davon, dass hier sogenannte „moralisch christliche Werte“ nur als Deckmäntelchen benutzt wurden um klare wirtschafts- und machtpolitische Ziele zu verfolgen (Stichworte: „Ein Sohn für Kaiser und Vaterland“, Industrialisierung von Produktion und Militär)

Was heute noch weit bekannt ist, ist die Auslegung und die Verschärfung des Paragraphen 175 durch die Nationalsozialisten im 3. Reich. Durch die Umformulierung des Gesetzes wurde der Straftatbestand von einem Vergehen zu einem Verbrechen erhoben. Genauso wurde der Paragraph in der Art erweitert, dass nicht nur eine sexuelle Handlung zu einer Erfüllung des Tatbestandes führte sondern es reichte schon eine Handlung, die
„objektiv das allgemeine Schamgefühl verletzt und subjektiv die wollüstige Absicht vorhanden war, die Sinneslust eines der beiden Männer oder eines Dritten [zu] erregen“ (Quelle: RGSt 73, 78, 80 f)

Mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde die unrühmliche Tradition des Paragraphen 175 fortgesetzt. Ein Gesetz, das unzählige Homosexuelle oder Personen, denen Homosexualität unterstellt wurde, in Konzentrationslager verbannte und in nicht wenigen Fällen sogar zu deren Tod führte, wurde ohne zu zögern fortgeführt. Teilweise wurde die Verfolgung des Paragraphen 175 auch mit solcher Vehemenz durchgeführt, dass es inquisitorische Qualitäten annahm. Einen traurigen Höhepunkt erreichte die Strafverfolgung in den sogenannten Frankfurter Prozessen, die erschütternde Folgen nach sich zogen:
„Ein Neunzehnjähriger springt vom Goetheturm, nachdem er eine gerichtliche Vorladung erhalten hat, ein anderer flieht nach Südamerika, ein weiterer in die Schweiz, ein Zahntechniker und sein Freund vergiften sich mit Leuchtgas. Insgesamt werden sechs Selbstmorde bekannt. Viele der Beschuldigten verlieren ihre Stellung.“ (Quelle: Kraushaar „Die Frankfurter Prozesse“ 1997, 62)

1962 scheiterte der erste Versuch, den Paragraphen 175 zu streichen, an der von Konrad Adenauer geführten CDU/CSU-Regierung

„Vor allem stände auch für die Homosexuellen nichts im Wege, ihre nähere Umgebung durch Zusammenleben in eheähnlichen Verhältnissen zu belästigen. […] Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde.“

und meinte weiterhin:

„Die von interessierten Kreisen in den letzten Jahrzehnten wiederholt aufgestellte Behauptung, dass es sich bei dem gleichgeschlechtlichen Verkehr um einen natürlichen und deshalb nicht anstößigen Trieb handele, kann nur als Zweckbehauptung zurückgewiesen werden. […] Wo die gleichgeschlechtliche Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat, war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kraft die Folge.“
(Quelle: Bernhard Nolz: „Schwule Säue!“, Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, 3/1995, Stümke 1989: 183 f., Ron Steinke: „Ein Mann, der mit einem anderen Mann…“ – Eine kurze Geschichte des § 175 in der BRD, Forum Recht, Heft 2/2005, S. 60–63.)

Mit dem bereits 1965 einsetzenden Wertewandel wurde der Paragraph 175 ab 1969 schrittweise immer weiter entschärft, bis er schließlich mit dem Beschluss des Bundestages vom 31.03.1994 endgültig gestrichen wurde. Leider muss man dazu erwähnen, dass diese Streichung nicht etwa aus der Einsicht erwuchs, dass eine Unterteilung von Menschen in Hetero- und Homosexuell eine Diskriminierung darstellte, vielmehr zwang der Einigungsvertrag über den Beitritt der DDR zum Bundesgebiet den Gesetzgeber dazu, alle Gesetze, die nicht harmonisiert werden konnten, ersatzlos zu streichen. Da es keine Einigung über eine Angleichung von DDR-Regelungen und Paragraphen 175 gab, war der Bundestag gezwungen, diesen aufzuheben.

Ebenfalls entgegen der Behauptung mancher Parteien wurde noch bis 1994 nach dem Paragraphen 175 abgeurteilt. So wurden im Jahre 1994 noch bis zur Aufhebung 44 Urteile basierend auf diesem Gesetz ausgesprochen. (Quelle: Rainer Hoffschildt: 140.000 Verurteilungen nach „§ 175“; in: Fachverband Homosexualität und Geschichte e.V. (Hrsg.): Invertito – 4. Jg. – Denunziert, verfolgt, ermordet: Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit, MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 2002, ISBN 3-935596-14-6, S. 140–149.) Bis heute haben es die Parteien im Bundestag nicht geschafft, sich über eine Aufhebung dieser Unrechtsurteile und zu einer Entschuldigung gegenüber den Betroffenen zu entschließen. Um die eigene konservative Klientel nicht vor den Kopf zu stoßen, ob aus eigener Überzeugung oder um nicht zugeben zu müssen, so lange dieses Gesetz aufrechterhalten zu haben, mag dahin gestellt sein.

Mittlerweile, im Jahre 2014, sind über 80% der Deutschen überzeugt, dass eine Ausgrenzung von Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen eine Diskriminierung darstellt. Lediglich ein kleiner konservativer Kern widerstrebt zuzugeben, dass LGBTI ein integraler Bestandteil der Gesellschaft sind. Trotzdem sind LGBTI immer noch weit davon entfernt, als gleichwertige Bürger unter Bürgern behandelt zu werden. Immer noch wird von einer kleinen Meute Ewiggestriger und Homophober eine Mauer der Diskriminierung um die Gemeinschaft der LGBTI errichtet. Schwule warten immer noch vergeblich auf eine Entschuldigung und, noch viel wichtiger, Rehabilitierung wegen des Paragraphen 175.

Als eine Person, die ohne zu zögern sagt, dass sie schwul ist, möchte ich mich abschließend nicht darüber ergehen, was noch alles in Deutschland notwendig ist, damit ich nicht als „Homosexueller“ sondern einfach nur als „Mensch und Mitbürger“ gesehen werde. Vielmehr möchte ich noch einmal Bezug nehmen auf den „warmen Bruder“, diese liebevolle Bezeichnung des Mittelalters für den Menschen, der einen in kalten Nächten gewärmt hat:

Ich bin stolz, ein warmer Bruder zu sein, sagt es doch aus, dass ich Menschen Emotionen, Verständnis und Herzenswärme entgegen bringe. Ich träume davon, das irgendwann einmal der 17.5. der Tag der „warmen Brüder und Schwestern“ ist, ein Tag, an dem wir feiern, dass man dem anderen Wärme und Verständnis entgegen bringt und nicht Hass.

Hinweis: Dieser Kommentar wurde von Bernd Kasperidus geschrieben und stellt nicht notwendigerweise die Meinung des ganzen Landesverbandes dar. Alle Mitglieder können Kommentare über das entsprechende Formular bei der SG Digitale Medien einreichen.

1 Kommentar zu “17.05. – Der wärmste Tag des Jahres

  1. Kai Ressel

    Hallo Bernd,
    treffend formuliert und toll geschrieben. Und die Herkunft des warmen Bruders war mir bis dato auch unbekannt.
    Man kann zwar stolz zurückschauen, was mittlerewile zumindest in größeren Städten möglich ist, sollte sich aber immer dessen bewusst sein, dass dies in anderen Teilen des Landes, nicht nur ländlcher Herkunft, durchaus anders gesehen wird und dass die Arbeit an der Gleichstellung noch lange nciht beendet ist.
    Warem Grüsse
    Kai

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