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Freiheit, gesellschaftliche Teilhabe und was das mit Anruf-Sammel-Taxis zu tun hat

Spätestens seit dem Einzug in Berlin rätseln Politikwissenschaftler aller bekannten Stiftungen und Politikforschungsinstitute über die Piraten. Dabei winden sie sich in Erklärungsversuchen, wo die Piratenpartei in ihrer wissenschaftlichen Einordnung stünde und erfinden dabei manchmal auch ganz neue Einordnungsmuster.

Viele Beschreibungen dieser Wissenschaftler beschreiben die Piratenpartei mal als sozial, mal als liberal, also immer mit irgendwelchen Begriffen, als ob ein dritter Spieler in den Klassenkampf zwischen Arbeitern und Unternehmern eingetreten sei. Bei dieser ganzen Deutelei der Politikwissenschaftler wird eins übersehen: Piraten reden fast immer sehr konkret – eine Herleitung aus übergeordneten Begriffen ist unter Piraten nicht nötig.

Es wird also Zeit, diesen Wissenschaftlern eine Brücke von unseren Positionen zu unseren Werten zu bauen – exemplarisch an einem konkreten Positionspapier, das auf dem Landesperteitag in Straubing mit nur sehr wenigen Gegenstimmen angenommen wurde:

Die Piratenpartei Bayern setzt sich für eine bessere Mobilitätsgrundversorgung in schwach besiedelten Gebieten ein. Aktuell kann insbesondere der ländliche Raum nur durch hohe Subventionen mit ÖPNV versorgt werden – und trotzdem ist eine Grundversorgung nicht gewährleistet. Die Piratenpartei Bayern setzt sich daher dafür ein, alle in Bayern existierenden Rufbus- und Anrufsammeltaxi-Angebote zusammenzuführen, überregional zu verknüpfen, dahingehend umzustrukturieren, dass Begrenzungen entlang von Landkreisgrenzen entfallen, Abfahrten jeweils zum nächstmöglichen Zeitpunkt erfolgen und Benutzbarkeit mit gängigen Fahrkarten ohne Aufpreis möglich ist. Eine Bereitstellung dieser Grundversorgung soll, wo keine andere Anbindung existiert, ständig gewährleistet sein. Außerdem soll diese Grundversorgungsstruktur parallel zu bestehenden Verbindungen als Ergänzung für nicht verkehrende Busse und Bahnen nachts und als Direktverbindung, wo eine Benutzung der vorhandenen, regelmäßig verkehrenden Linien mehr als eine Verfünffachung der Fahrzeit bedeutet, bereitgestellt werden. Langsfristig sollen die Verkehrsquellen und Ziele analysiert und dahingehend geprüft werden, ob sich aus diesem Kleinverkehr ggf. ausreichend ausgelastete Buslinien erstellen lassen.

Nun, welche Werte stecken hinter diesem Antrag? Es geht darum, dass auf dem Land eine neue Ebene im ÖPNV eingezogen wird – eine unter der Skalierungsgröße „Bus“. Darunter liegt das Taxi. Jeder kennt es, wenn man sich zu fünft ein Taxi nimmt, kostet das Taxi für jeden weniger. Das war die Grundidee für Anruf-Sammel-Taxis, die es in unterschiedlicher Ausprägung hier und dort mal in Bayern gibt. Für einen Bus reichen fünf Personen nicht aus – ein Taxi wird hingegen richtig billig. Bei Anruf-Sammel-Taxis übernimmt der Verkehrsträger – also in der Regel der Landkreis – das wirtschaftliche Risiko – falls sich kein zweiter, dritter, vierter oder fünfter Mitfahrer findet. Dadurch soll es für den Einzelnen interessant werden, das Anruf-Sammel-Taxi zu nutzen.

Neben diesen paar Brocken technischen Hintergrundwissens zu Anruf-Sammel-Taxis muss man sich nun anschauen, wer die mögliche Nutzergruppe ist: Es handelt sich – so würde es der „etablierte Verkehrsexperte“ sagen, um „nichtindividualmotorisierte Kleinverkehre“ Im Verkehrssprech könnte man dann noch präzisieren: „entweder zu Randzeiten, in Randlagen oder beides“. Nun kann man diese technische Ausdrucksweise nicht stehen lassen und sollte das „Randlagen“-Gesicht eines Bürgers suchen. Oder das „Randzeiten“-Gesicht eines Menschen. Wie sehen Leute aus, die „nichtindividualmotorisiert“ sind und in „Randlagen“ wohnen und zu „Randzeiten“ fahren?

Es sind oft diejenigen, die in der Gesellschaft nicht wahrgenommen werden. Deren Wirken nicht wargenommen wird. Zum Beispiel Reinigungskräfte, die über Nacht Großraumbüros auf Vordermann bringen. Oder Bäckereiverkäufer, die entsprechend früh anfangen müssen, um die Auslage voll zu haben, wenn der Rest der Welt aufsteht. Aber wie werden Arbeiten bezahlt, die für niemanden subjektiv wichtig sind? Richtig, schlecht.

Außerdem sind es oft Alte, die in ihren Austragshäuserln auf dem Land feststecken und nicht mehr weg kommen.

Ich erinnere mich an meine ersten großen Fahrten mit dem Fahrrad. Selbstbestimmt. Wohin ich wollte. Das Erlebnis wiederholte sich mit dem Führerschein. Auch wenn er obligatorisch für die Ausbildung war (KFZ-Mechatroniker), er brachte mir erneut einen größeren Radius an Freiheit. Zumindest, solange ich mir ein Auto leisten konnte. Der Weg zurück, ohne Auto, vier Stunden am Tag unterwegs statt einer dreiviertel Stunde, zehrt. Man hat keine Zeit mehr für Freunde, man fährt los, bevor die Geschäffte offen haben und kommt zurück, wenn alles zu ist. Und das war noch innerhalb des MVV-Rings 10, also im Münchner Umland.

Wenn man nicht selbst mal auf den PKW verzichten musste, wird man kaum nachvollziehen können, welche Freiheit einem da entzogen wird. Deswegen lässt sich auch die Frage beantworten, ob das nicht ein Luxusproblem sei: Nein. Recht gibt mir bei dieser Einordnung übrigens die massive Landflucht in Bayern.

Und Personen, die auf den PKW verzichten müssen, gibt es jedes Jahr mehrere tausende – von denen hunderte so schnell nicht wieder mobil werden. Seien es Trunkenfahrten, Fehlverhalten im Verkehr, Drogendelikte oder wirtschaftliche Gründe: Der berechtigte Urteilsspruch – also Fahrverbot oder ähnliche Maßnahmen – eines Verkehrsgerichtes vernichtet aufgrund der PKW-Lastigkeit unserer Infrastruktur und somit der Möglichkeit zur Mobilität nicht selten die persönliche Existenz eines Menschen. Das bizzarre daran ist, dass über die Existenz das Gericht aber eigentlich gar nicht zu urteilen befugt wäre.

Wir sind eine hochmoderne Gesellschaft und erwarten von fast jedem, hochmobil zu sein, damit er ähnlich teilhaben kann. Diese Erwartung an Gesellschaftsmitglieder halte ich nicht für verkehrt – im Gegenteil. Doch die vorhandene Infrastruktur legt in „Randlagen“ und zu „Randzeiten“ fest, dass nur der teilhaben kann, der über einen PKW verfügt und diesen selbst steuern darf. Und damit ist die Erwartung, dass man nur an der Gesellschaft teilhaben kann, wenn man einen PKW und Führerschein besitzt.

Gesellschaftliche Teilhabe lässt sich eben nicht politisch durch 400, 500 oder gar 1000 € Beihilfen abtauschen. Gesellschaftliche Teilhabe für jeden einzelnen zu ermöglichen bedeutet auch – und ganz besonders in der Infrastruktur- und Verkehrspolitik – darauf zu achten, dass nicht ein singuläres Merkmal ausschlaggebend wird.

Ich hoffe, diese Einordnung eines konkreten Positionspapiers zu Anruf-Sammel-Taxis hilft den Politikwissenschaftlern ohne jedes mal erneut bezugnehmend auf abstrakte Begriffe, uns Piraten einzuordnen.

Hinweis: Dieser Kommentar wurde von Andreas Witte geschrieben und stellt nicht notwendigerweise die Meinung des ganzen Landesverbandes dar. Alle Mitglieder können Kommentare über das entsprechende Formular bei der SG Digitale Medien einreichen.

4 Kommentare zu “Freiheit, gesellschaftliche Teilhabe und was das mit Anruf-Sammel-Taxis zu tun hat

  1. Wolfgang Schröpfer

    Ein Wörtchen über die Finanzierung würde sich noch ganz gut machen.

    • Bitte die Begründung durchlesen, da steht das mehr oder weniger drin…
      http://wiki.piratenpartei.de/BY:Landesparteitag_2012.1/Antragsfabrik/Grundversorgung-Mobilit%C3%A4t

      Begründung

      Große Busse haben oft das Problem, dass diese auf dem Land nie ausrechend wirtschaftlich funktionieren. Buslinien, die nur 2-3 mal am Tag verkehren bieten in unserer hochmobilen Gesellschaft keine Alternative zum ständig-verfügbaren PKW. Anrufsammeltaxis werden in der Regel aufgrund der Nichtbenutzbarkeit mit Fahrkarten sowie starker regionaler Eingrenzungen nicht angenommen, daher ist eine zulassung der existierenden Fahrkarten wichtig. Rufbuslinien werden ebenfalls nicht allzu gut angenommen, da die Anforderung des Angebots nur zu gewissen Zeitpunkten erfolgen kann. Die Kombination aus Anforderung und begrenztem zeitlichem Rahmen stellt eine zu hohe Hürde für die Benutzung dar.

      Normale Taxis kann man sich als Student, Rentner, Arbeitnehmer usw. nicht regelmäßig leisten. Daher ist der Besitz eines PKWs in ländlicher Wohnlage fast nicht zu vermeiden.

      Durch eine flächendeckende und permanente Bereitstellung von Mobilität wird der ländliche Raum insgesamt gestärkt. Durch eine Zusammenlegung von regelmäßig verkehrenden Linien (Busse/Bahnen), und Anforderungstransport können viele unrentable Buslinien bei gleichzeitig gesteigerter Anbindung der jeweiligen Stationen aufgegeben werden. Ein Einzeltransport von Personen ist ebenfalls nicht beabsichtigt, die Kleinstbusse, welche hier auf Nachfragebasis zwischen Verkehrsquelle und Verkehrssenke direkt verkehren sollten natürlich im Idealfall möglichst viele Personen mitnehmen und diese auf einer optimalen Route zu ihren Zielen bringen.
      Rein kalkulatorisch kostet der Personenkilometer dann, aufgrund deutlich kleinerer Fahrzeuge, auch deutlich weniger als starre Busverbindungen mit schlechter Auslastung. Außerdem wird der Besitz einer Zeitfahrkarte dadurch deutlich aufgewertet – es entstehen somit zusätzliche Einnahmen.

  2. Wolfgang Schröpfer

    Noch ein anderer Gesichtspunkt. Jeder Erwachsene, der in einer sogenannten Randlage wohnt, tut das selbstbestimmt. Das heißt, irgendwann gab es sicher mal die Gelegenheit in einer zentraleren Lage zu wohnen. Da ist der Weg zur Arbeit oder zu kulturellen Angeboten kürzer und somit preiswerter aber das Wohnen an sich ist teurer. Können nun im Gegenzug Bürger, die die Unannehmlichkeit eines Umzugs und das teurere Wohnen in einer Stadt auf sich nehmen, mit einem Zuschuss für die teure Miete durch den Staat rechnen? In der Regel sind öffentliche Verkehrsmittel ja auch Zuschussbetriebe, die Staatsgelder brauchen.

    • Frank Zimmermann

      Hallo Herr Schröpfer,

      Ihre Anmerkung trifft sicher zum Teil auf den Teil der Bevölkerung zu, der im Dorf A (sagen wir mit Bahnanschluss) und in der Stadt B arbeiten, also im von Ihnen genannten Zentrum. Ich denke jedoch auch, dass dieser Teil der Bevölkerung von seinem Selbstbestimmungsrecht auf die Lage des Wohnortes insofern Gebrauch macht, als dass ein attraktiver Wohnort gesucht (und auch gefunden wird). Nehmen wir aber an, dass der andere Partner, nicht ebenfalls in der Stadt B arbeitet, sondern im Dorf C, welches 8 km von Dorf A entfernt liegt und nicht öffentlich zu erreichen ist. Was ist in diesem Fall? Einen neuen Partner suchen? Oder in Dorf C ziehen, dann jedoch ein zweites Auto anschaffen, welches dann den ganzen Tag in Dorf A am Bahnof steht? Den Partner jeden Morgen wecken, damit er einen von C nach A fährt um dann wieder zurück nach C zu fahren? Ich denke, dass dieses Beispiel zeigt, dass Ihr Vorschlag höchstens auf sehr flexible Singlehaushalte abzielen kann, nicht jedoch auf diejenigen, die in einer Partnerschaft zusammen leben und an zwei unterschiedlichen Orten arbeiten. Von daher kann ich den Standpunkt von Andreas Witte nur unterstützen. Auch der ländliche Raum braucht eine entsprechende Grundversorgung an ÖPNV. Und der kann nicht wie heute aussehen, wo es zwischen Dort A und Dorf C täglich zwei Busverbindungen gibt (eine mogens und eine abends).

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