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Lassen wir das mit dem Sitzenbleiben

Kurt Forstner - gemeinfrei
Kurt Forstner - gemeinfrei

Ich bin jetzt 28 Jahre alt. Ich habe beinahe jede Schule in Bayern durchlaufen, die man sich so vorstellen kann.

Die Grundschule, die Hauptschule, die Berufsschule, die Berufliche Oberschule. Bis zum Studium konnte ich mir also einen recht guten Überblick über genau das verschaffen, worüber so mancher Politiker auf Bundes- aber vor allem Landesebene nun gerne urteilen möchte. Aber nicht nur das, ich hatte sogar das „Privileg“, in der 8. Klasse der Hauptschule durchzufallen. 5x Note 5, 7x Note 4. Nur in Deutsch und Wirtschaftsinformatik war ich gut. Zu viele Information für jemanden, der gerne in den Landtag will? Wohl kaum. Peer Steinbrück, übrigens Kanzlerkandidat, hat für die Klassen 8, 9 und 10 fünf Jahre gebraucht. Eine Schande? Echt nicht. Das System an sich krankt. Besprechen wir das mal Schritt für Schritt.

So viele Experten

Da gibt es Hans Brügelmann. Der Mann ist Grundschulpädagoge. Und eigentlich sind wir beide fast auf einer Linie. Er sagt, ganze Klassen zu wiederholen, das ist eigentlich unsinnig. Davon hat die Schule nichts. Die Eltern nichts. Er versäumt in seinem Interview mit dem Deutschlandfunk aber zu erwähnen oder zumindest klar herauszustellen, dass vor allem die Kids nichts davon haben. Er stellt aber auch fest, dass das Sitzenbleiben ein Strafinstrument ist. Und kann dabei sehr wohl differenzieren. Zwischen den Schülern, die krank waren und deshalb wiederholen müssen und nichts dafür können, bei denen es auch effektiv keinen Umweg gibt. Und denen, die faul waren und eben schon etwas dafür können. Die Frage, die er unbeantwortet lässt, ist, ab wann Schülerinnen und Schüler das eigentlich selbst zu verantworten haben, bewusst. Er geht also schon in die richtige Richtung, traut sich aber den letzten Schritt nicht.

Dann gibt es da zum Beispiel die designierte niedersächsische Kultusministerin Frauke Heiligenstadt. Sie gehört der SPD an. Konkret wird sie bei ihrer Forderung, das Sitzenbleiben abzuschaffen, nicht. Sie bezieht sich beim Interview mit der Tagesschau auf die integrierten Gesamtschulen. Da habe man die niedrigsten Schulabbrecher-Quoten überhaupt. Bringt nur leider gar nichts, das so zu handhaben. Denn es ist nicht progressiv. Es ist, wie Einstein sagte:

Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.

Und dann haben wir da noch Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle. Der vertritt natürlich die Meinung:

Man entkleidet sich ohne Not eines pädagogischen Instruments, das den Schülern die Möglichkeit bietet, Versäumtes nachzuarbeiten. Das hat nichts mit Strafe zu tun.

Josef Kraus, Chef des Deutschen Lehrerverbands, pflichtet dem Minister bei:

Es gibt keine pädagogische Begründung für die Abschaffung, außer man ist ein naiver Utopist.

Sachsen-Anhalts Kultusminister Stephan Dorgerloh widerspricht wieder:

Die Wissenschaft ist zum größten Teil der Auffassung, dass das Sitzenbleiben nichts bringt.

So. Dann haben wir da jetzt ganz viele schlaue Köpfe gehört. Die sich seit Jahren wie die Erde um die Sonne drehen. Oder wie die Sonne um die Erde? Wenn wir noch ein bisschen mit dieser Debatte weitermachen, wird diese Frage keiner mehr beantworten können. Alles blödsinnige und in diesem Fall deplatzierte Ideologie, sage ich.

Angst wird als Motivation verkauft.

Wer behauptet, dass das Sitzenbleiben motiviert, hat offenbar nie mit einem Menschen gesprochen, der das mal mitgemacht hat. „Na, letzte Klasse verkackt?“, „Du bist ja sogar zu dumm, um die Achte zu schaffen!“, „Da schreibst du nur ’ne 3? Du hattest das doch letztes Jahr schon alles?“ All das hab ich damals auch gehört. Und all das hören die Kinder und Jugendlichen auch heute noch. Dieses Pseudoargument der „Motivation“ schwingt immer mit. Immer dann nämlich, wenn es um Humankapital geht. Immer dann, wenn Menschen in einer wirtschaftlichen Größe definiert werden sollen. Den Vergleich zieht man heute nur allzugern heran. In der Wirtschaft, da sei es ja nicht anders. Daran müsse man sich gewöhnen. Wenn man da versagt, ja, dann ist das ein Motivationsschub. Das werden die Ärztekammern und Krankenkassen meiner Meinung nach so nicht unterschreiben. Die werden eher von Burn-Out und Stresssymptomatik berichten. Und wir denken ernsthaft darüber nach, ob wir unseren Kindern etwas antun wollen, das so mancher Erwachsener nicht erträgt? Damit der elitäre Bildungsblödsinn, die Auslese der Besten, weiter als das definierte Ziel umgesetzt wird? Dank Bolognareform (die ich im Nachhinein für gar nicht dumm halte, aber für schlecht umgesetzt) und G8 sind wir ja auf dem besten Weg dorthin. Mich jedenfalls hat nach meiner „Ehrenrunde“ gar nichts mehr motiviert. Außer der Tatsache, dass ich Angst hatte, als völliger Versager bei meinen Eltern durch das Raster der Liebe zu fallen. Klar. Seine Leistung bringt man dann. Ob das der richtige Weg ist, das darf aber ganz, ganz sicher fraglich bleiben.

Was tun wir denn nur?

Wir machen das sinnvoll.

1. Kostenlose, frühkindliche Bildung.

„Bildungsferne“ Familien, die damit einhergehend in der Regel über weniger Geld verfügen, würden ihre Kinder dann auch entsprechend früher in die Kindergärten- und Tagesstätten schicken. Wer heute noch glaubt, dass Bildung erst in der ersten Klasse beginnt, hat eigentlich schon verloren. Und nein. Wir brauchen im Kindergarten kein superelitäres System, bei dem einer schlauer ist als der andere. Sondern wir können die Kinder einfach Kinder sein lassen. Sie ihre Kindheit leben lassen und sie bei dem, was sie lernen möchten, unterstützen. Kinder wollen lernen. Und Kinder wollen von Kindern umgeben sein.

2. Anspruch auf Ganztagesschulen.

Und der muss dann auch umgesetzt werden. Es muss eigentlich schon ab der ersten Klasse die Möglichkeit geben, dass die Kinder den ganzen Tag in der Schule bleiben können. Dazu gehört aber eben auch eine Kultur in der Schule. Ein Miteinander. Miteinander lernen, singen, spielen, tanzen, reden, lachen, weinen und leben. Damit einhergehend muss klar sein, dass das ein Angebot ist. Wir dürfen und können seitens der Politik nicht bestimmen, dass die Kinder am Nachmittag in der Schule sitzen, obwohl die Eltern daheim sind und Zeit mit den Sprösslingen verbringen wollen. Das ist absurd und unnötig. Dennoch: Das Angebot muss bestehen.

3. Ende mit diesem Schulsystem-Schwachsinn.

Also. Wir haben da die Grundschule. Und die Förderschule. Und die Hauptschule. Mittelschule, Realschule, teilintegrierte Mittelschule, teilintegrierte Realschule, Gymnasium, teilintegriertes Mittelschulzentrum mit eingegliedertem Gymnasium, FOS, BOS, Berufsschule, Berufsfachschule, Wirtschaftsschule… ginge es nach mir, wäre der Bildungsföderalismus in der Zielsetzung ab morgen abgeschafft. Lernziele statt Lehrpläne. Natürlich sollen die Schulen eigenverantwortlich entscheiden, wie sie ihre Schülerinnen und Schüler an das erklärte Ziel führen. Es ist auch nicht wichtig, wie das passiert. Denn es ist individuell, wie das passiert. In Berlin und Bremen gibt es andere Ansprüche als in München und Stuttgart. Aber es ist sicher nicht im Sinne des Erfinders, für jeden Einzelfall eine Schulform zu schaffen, sondern vielmehr ein Schulsystem zu schaffen, das eine hohe Durchlässigkeit und Motivation schafft.

4. Anerkennung und Motivation für alle!

Ich habe in meinem Bekanntenkreis beinahe jeden Beruf vertreten. Ich kenne Ärzte und Juristinnen, ich kenne Friseure und Technikerinnen. Ich kenne Krankenpfleger und Kinderpflegerinnen. KFZ-Mechaniker und Malerinnen. Und es zieht sich durch die Bank: Willst du was studieren oder deinen Meister machen, dann kostet das Geld. Das weiß jeder. Dass aber für so manche Fachschule bestimmter Berufsgruppen, nehmen wir mal den Beruf der Altenpflege – in dem übrigens ein massiver Personalnotstand besteht – Geld dafür bezahlt werden muss, um danach mit einem Lohn nach Hause zu gehen, der jenseits von Gut und Böse ist, das darf nicht sein. Bildung und Ausbildung müssen kostenlos sein. Diesen Anspruch erfüllen skandinavische Länder zum Beispiel schon seit Jahren. Die OECD lügt nicht, wenn sie diesen Ländern hervorragende Bildungs- und Berufsperspektiven bescheinigt. Wir müssen mit diesem Zwei-Klassen-Denken aufhören. Ehrliche Arbeit ist ehrliche Arbeit. Meister müssen fair bezahlt werden. Akademiker ebenfalls. Aber eben auch Menschen, die im Friseur-, Bäcker-, oder Malerhandwerk arbeiten.

5. Ordentliche Umsetzung.

Es ist ein Irrglaube, dass Kurssysteme oder ein eingliederiges Schulsystem bei uns nicht funktionieren würden. Es würde funktionieren. Beides. Und es gibt genug Länder mit einem hervorragenden Bildungssystem, die genau das auch belegen. Man muss nur endlich mal genug Mut haben, um sich von den bisherigen Modellen abzuwenden, den Mut haben zu akzeptieren, dass eben nicht alles, was glänzt, auch Gold ist. Mit dem Kurssystem an den Schulen wäre das Wiederholen einer gesamten Klasse obsolet. Schülerinnen und Schüler könnten entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit – vor allem aber ihres Leistungswillens – voranschreiten. Wir verhindern also kein schnelleres Lernen. Wir verhindern nur demotivierendes, zerstörendes Elitenwesen.

6. Der Söder will halt sparen.

Und genau dem sollte man ganz schnell ganz dringend einen Strich durch die Rechnung machen. Herr Söder, Bayerischer Staatsminister der Finanzen, ist wie verrückt darauf aus, den bayerischen Staatshaushalt zu konsolidieren. Und ich gewinne den Eindruck, dass ganz viele Menschen glauben, dass Konsolidieren bedeutet, man will Schulden komplett abtragen. Ganz sicher, das will Herr Söder zum Großteil. Auf Kosten der folgenden Generationen. Konsolidieren bedeutet aber effektiv und politikwissenschaftlich nichts anders, als kurzfristig bestehende Verbindlichkeiten in langfristig bestehende Verbindlichkeiten umzuwandeln. Machen wir es kurz: Ich bin durchaus für einen Schuldenabbau. Sozialverträglich. Und dann bitte auch einen Abbau – keine Konsolidierung. Schulden bezahlen, nicht aufschieben. Bei der Bildung gibt es kein Sparpotenzial. Punkt.

Fazit

Zugegeben, es sind bislang nur Positionspapiere. Aber hey: Die wurden mit ordentlicher Mehrheit angenommen. Will sagen: All diese Forderungen erfüllen wir als bayerische Piraten. Und gehen damit der Zeit voraus. Das ist genau das, was so oft kritisiert wird. Wir hätten keine Positionen. Doch. Die haben wir. Und wir sollten über sie reden. Und wir werden für diese Positionen viel Gegenwind bekommen. Weil sie eine massive Veränderung mit sich bringen. Plötzlich ist das elitäre Denken nämlich gar nicht mehr so wichtig. Ich will hier aber auch ein wenig Angst abbauen: Sowas wie den Abiball kann es dennoch geben. Eine Ehrung für besonders gute Leistungen – kein Problem. Man kann dennoch stolz auf seine Kinder sein, weil sie zum Beispiel im Biologiekurs super abgeschnitten haben. Oder in Musik. Oder in Deutsch. Der Unterschied ist nur: Die Kinder dürfen sich selbst entscheiden – zusammen mit Eltern und Lehrern – worauf sie stolz sein wollen. Lasst sie das machen. Es tut allen Beteiligten einfach nur gut.

Symbolbild: Kurt Forstner – Gemeinfrei
Hinweis: Dieser Kommentar wurde von Dominik Kegel geschrieben und stellt nicht notwendigerweise die Meinung des ganzen Landesverbandes dar. Alle Mitglieder können Kommentare über das entsprechende Formular bei der SG Digitale Medien einreichen.

4 Kommentare zu “Lassen wir das mit dem Sitzenbleiben

  1. ansgarhone

    Ahoi Dominik,
    Guter Artikel.
    Meine Grundeinstellung ist aber noch mehr auf „Lernziele statt Lehrpläne“ einzugehen. Das bedeutet, dass ich den bisherigen Fächerkatalog in der Schule nicht als Erreichen eines Klassenziels sehe, in dem in allen Schulfächern ein „ausreichendes“ Ergebnis erzielt werden soll, sondern die „Teilfähigkeiten“ einzeln erreichen möchte. Da diese von Alter, Geschlecht, Interessen und andern Faktoren abhängig ist wie unter anderem im.Buch „Schülerjahre“ von Remo H. Largo beschrieben, sollte meiner Ansicht nach die Entscheidung über die einzelnen „Wissenvermittelungseinheiten“ den Lehrenden überlassen werden.
    Wenn man diesen Unterschied in Interviews zur Sprache bringt, kann das nicht nur einen Punkt unser Parteiprogramms erläutern, sondern bildet auch ein „Alleinstellungsmerkmal“ der Piratenpartei, weil die anderen Parteien von einer inhaltlichen stattlichen Regulierung der Schulstoffs (Lerninhalte) durch ein Ministerium ausgehen. Im System der Lehrpläne ist das Vermeinden des Sitzenbleibens lediglich ein „sozialverträgliches Mitschleifen“.
    Bleib drann. Heute (21.2.2013) soll im SWR-Fernsehen (20:15) in einem Magazin über das Abschaffen des Sitzenbleibes berichtet werden. .
    Ansgar
    P.S. Ich bin nur auf diese Seite gestoßen, da ich die im Bunndesprogramm wie auch in den beschlosenen Positionspapiern des Landesverbandes auf sich überlagernde Positionspapiere stoße. .

  2. EX-PER-IRE heißt heraus und durch gehen.
    Für mich als Ich-kann-Schule-Lehrer müsste jemand, der Experte sein will, wenigstens das tatsächliche Problem erkennen.
    Sitzenbleiben ist nur EIN SYMPTOM und NICHT DAS PROBLEM.
    Sitzenbleiber können mit gut mit ihren Talenten umgehen – UND IHRE LEHRER AUCH NICHT.
    Nicht-Könner-Schüler + Nicht-Könner-Lehrer immer wieder nur ein Jahr weiterwursteln lassen, das würde in der Ich-kann-Schule nicht mal ein Kind als Lösung oder als Pädagogik ansehen.
    Die konkrete LÖSUNG verlangt KÖNNEN LERNEN und zwar ZUERST VOM LEHRER, denn:
    Solange der nicht KÖNNEN KANN, lernen alle, die bei ihm was lernen, bei allem, was sie lernen NICHT KÖNNEN.
    Freundlich grüßt
    Franz Josef Neffe

  3. Ein ziemlich schwer zu entziffernder Eintrag, der sehr schwer zu verstehen ist. Die Kernaussage soll wohl sein: „Wir brauchen sehr gut ausgebildete Lehrer.“ Korrekt. Dafür brauchen wir sehr viel mehr Geld. Insofern müssen wir erst den ersten Schritt machen, bevor wir über den zweiten nachdenken. Unter Punkt 6 wird das auch deutlich.

    LG
    Pinny

  4. Anonymous

    Ich stimme dir voll und ganz zu. Es kann nicht angehen, dass gute Noten in Sippenhaft genommen werden, nur weil sie mit schlechten Noten auf dem gleichen Zeugnis gelandet sind.

    Ohne eine solche Sippenhaft wäre mir sehr viel Ärger erspart geblieben. Ich hätte mir einige unnütze Wiederholungen gespart und hätte dafür aber wahrscheinlich auch dort Inhalte wiederholen können/müssen, wo ich wegen einer einzelnen 5 nicht insgesamt durchgefallen bin.

    Ganz grundsätzlich bin ich für ein Bildungssystem, dass sich flexibel an die Lerngeschwindigkeit des Schülers anpasst und nicht vom Schüler erwartet, dass er mit der Geschwindigkeit des Systems lernt. Insbesondere sollte das Lerntempo der verschiedenen Fächer nicht aneinander gekoppelt sein. Denn wer eine Inselbegabung hat, dem wird mit einem solchen System nichts Gutes getan. Wer zum Beispiel die 1. Klasse an einer Montessori-Schule besucht, der hat die Option, den gesamten Mathematikstoff der ersten Klasse an einem Wochenende durchzuarbeiten – um sich danach anderen Inhalten zuzuwenden. An unseren staatlichen Schulen wäre so ein Ansatz undenkbar.

    Ich denke, dass wir überlegen sollten, welche Ideen wir von Reformschulen und den Bildungssystemen in anderen Ländern übernehmen sollten – auch wenn das bedeutet, dass wir unser Bildungssystem komplett überarbeiten müssen.

    In diesem Sinne: Prüfet alles und behaltet das Gute.

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