Am 3. September, ist es genau 70 Jahre her, seit das Getto Hongkew in China von amerikanischen Streitkräften befreit wurde. Ich sitze in Köln an meinem Schreibtisch, blicke in den Fernseher und Bilder ziehen in immer rascherer Folge an meinen Augen vorbei. Bilder von der Küste der Türkei. Angeschwemmte Leichen von Flüchtlingen, die sich auf die nächste lebensgefährliche Etappe ihrer Flucht vor Verfolgung und Tod gemacht haben.
Dabei kann ich nicht anders, als an den sogenannten „Meisinger-Plan“ zu denken. Der SS Standartenführer aus dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin, der sich bereits als Massenmörder in Polen betätigt hatte, war vom 1. April 1941 bis Mai 1945 als Polizeiverbindungsführer und Sonderbeauftragter des SD an der deutschen Botschaft in Tokio tätig. In dieser Eigenschaft reiste er in das von den Japanern besetzte Shanghai und versuchte in Verhandlungen mit japanischen hohen Offizieren, einen Endlösungsplan für die aus Europa geflohenen in Shanghai lebenden Juden durchzusetzen. Einer seiner Vorschläge war die in Shanghai lebenden Juden zusammenzutreiben und auf alten Schiffen ins Meer abzuschieben, wo sie ohne Nahrung und Wasser dann von alleine sterben würden.
Ich sehe die Bilder der Flüchtlinge auf dem Bahnhof in Budapest, ich sehe die Bilder von weinenden verängstigten Kindern. Ich erinnere mich an das Gedränge im Hafen von Shanghai kurz vor der Abfahrt zurück nach Europa. Fremde Laute, fremde Gesichter, existentielle Unsicherheit, endlose Angst. Eine Angst, die ein ganzes Leben zum Begleiter dieser Kinder und ihrer Eltern werden wird. Angst die nicht vergehen wird, Angst, die ihr Verhalten auf Dauer in den verschiedensten Bereichen und ihrem künftigen Alltag prägen wird.
Ich habe Glück gehabt. Ich habe im Gegensatz zu meinen Eltern Flucht und Verfolgung überlebt. Ich habe viele Jahre in dem trügerischen Gefühl gelebt, die Vergangenheit, Verfolgungen und Gefahren seien überwunden. Ich lebe auf einer Insel der Seeligen, die in dem Glauben Wohlstand und Frieden genießen, sie seien geschützt vor Verfolgung und Gefahren. Jetzt erleben wir alle zusammen, dass die Folgen der Kriege und Verfolgungen zu uns kommen.
Vor einigen Wochen habe ich eine Ausstellung besucht, die vom International Tracing Service (ITS) des Roten Kreuzes in Arolsen entwickelt und organisiert wurde. Die Ausstellung behandelt das Thema der Displaced Persons, die nach der Befreiung zu Millionen Europa durchzogen. Teils auf der Suche nach der verlorenen Heimat, teils auf der Suche nach einer neuen Heimat. Ich wanderte von Tafel zu Tafel. Bilder und Dokumente belegen die Zeit, als Europa von Flüchtlingen und Überlebenden des 2. Weltkrieges bevölkert wurde. Das ist nun fast siebzig Jahre her. Beim Anblick einer der Tafeln stockte mein Herzschlag. Ich sah ein Photo in schwarzweiß, auf dem fünf junge männliche Menschen vor dem Bug eines Schiffes abgebildet waren. Unter dem Photo ein erklärender Text, es handele sich um Jugendliche aus Shanghai, die in einem europäischen Hafen auf ihre Überfahrt nach Israel warten. Das Schiff ist mit Tauen am Kai festgebunden, der Name des Schiffes ist leserlich. NEGBA steht dort in lateinischer und hebräischer Schrift. Ich sehe auf dem Photo, dass es sich um ein altes und kleines Schiff handelt, das da auf die Überfahrt übers Mittelmeer wartet. Die NEGBA war das Schiff, auf dem ich als jugendlicher Überlebender nach Israel gekommen bin. Weder die Erinnerung an die Ängste in Shanghai, noch die Hoffnungen, die sich mit der NEGBA verbanden, haben mich verlassen.
All das wird lebendig, wenn ich die Hunderttausende von Flüchtlingen auf den Bildschirmen sehe. Hoffnung und Freude überkommen mich, wenn ich die Hilfsbereitschaft in Deutschland wahrnehme, den Flüchtlingen zu helfen. Gleichzeitig habe ich Angst, dass Europa, wie in den 30er Jahren, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrhunderts versagen wird bei der Handhabung von Flüchtlingsprobleme. Dass sich Tragödien wiederholen. Das DARF nicht sein.
Symbolbild: Historical plaque, Shanghai Jewish ghetto, China, HBarrison – Lizenz: by-sa-2.0
Hinweis: Dieser Kommentar wurde von Peter Finkelgruen geschrieben und stellt nicht notwendigerweise die Meinung des ganzen Landesverbandes dar. Alle Mitglieder können Kommentare über das entsprechende Formular bei der SG Digitale Medien einreichen.
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